Zum Tod von Uljana Havemann: Als sie erfuhr, dass sie sterben muss, sagte sie: „Wir heiraten jetzt“

Drei Jahre vor ihrem Tod habe ich Uljana zum ersten Mal getroffen, im Sommer 2022 in einem Café in Prenzlauer Berg. Eine Filmproduzentin hatte zu einem Treffen eingeladen. Es ging um die Verfilmung meines Buches „Der Fall Scholl“, der Geschichte des Ludwigsfelder Bürgermeisters, der nach fast 50 Jahren Ehe seine Frau ermordet hatte. Ich sollte die Regisseurin kennenlernen.
Das Café war voll, aber Uljana fiel mir gleich auf. Groß, blass, die blonden Haare auf eine gezähmte Art wild. Sie trug ein weites Kleid und ein Tuch um die Schultern, als würde sie frieren. Eine Erscheinung wie aus dem Berlin der 20er-Jahre oder einem Tschechow-Stück. Das Gegenteil von den Kleinbürgern der Brandenburger Stadt, die ich im Buch beschrieb.
Aber für Uljana schien es keine wichtigere Geschichte zu geben. Sie hörte zu, stellte Fragen, wollte alles verstehen. Den Ort, die Beziehung, die Zeit. Wir trafen uns wieder. Sie erzählte mir von ihrem Leben, ich ihr von meinem. Sie kam aus Ost-Berlin, wohnte in Westend, war in Los Angeles zur Filmschule gegangen, hatte in New York Kurzfilme gedreht. In ihrer Familie schien sich die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu versammeln. Russen, Ukrainer, Juden, alter preußischer Adel, DDR-Dissidenten, DDR-Nomenklatura. Sie strahlte eine große Weltläufigkeit aus, schien aber immer noch auf der Suche zu sein, nach ihrem Weg im Leben, nach neuen, anderen Perspektiven.
Mutter von Uljana Havemann: „Das Russische war ihr immer näher“Uljana Havemann wurde am 16. Oktober 1973 in Berlin-Mitte geboren und nach ihrer ukrainischen Urgroßmutter benannt. Ihre Mutter, eine Kunsthistorikerin, war Russin, ihr Vater, ein Physiker, kam aus der DDR. Die Eltern lernten sich beim Studium an der Moskauer Lomonossow-Universität kennen, heirateten in Kiew, zogen zusammen nach Ost-Berlin. Er arbeitete an der Akademie der Wissenschaften, sie im Amt für industrielle Formgestaltung, später in Potsdam.
Uljana war die jüngere von zwei Schwestern. Eine Sturzgeburt, sagt ihre Mutter, sie habe es gerade noch rechtzeitig in die Charité geschafft. So sei Uljanas ganzes Leben gewesen. Alles musste immer ganz schnell gehen. Als habe sie gewusst, dass sie keine Zeit zu verschenken hatte. „Uljanchen“ nennt Jelena Jamaikina ihre Tochter. Sie spricht von ihr in der Gegenwart, als sei sie noch da.
Mit eins wurde Uljanchen krank, Krebs, musste in die Klinik, bekam Chemotherapie und Bestrahlungen. Mit zweieinhalb gingen die Eltern für ein halbes Jahr nach Moskau und brachten die Kinder bei den Großeltern im Kaukasus unter. Als Uljana von dort zurückkam, sprach sie fließend Russisch. Ihre deutsche Großmutter war entsetzt. Uljana holte schnell auf. Aber das Russische, sagt die Mutter, sei ihr immer näher gewesen. Auch vom Temperament her.
Sie beschreibt ihre Tochter als ein Mädchen, „das von Gott reich beschenkt wurde“, schön, klug, mit vielen Talenten, „ein wunderbar liebenswerter Mensch“. Sie lernte Flöte und Geige, brachte sich selbst das Klavierspielen bei, liebte schon als Kind das Theater. Als sie zehn war, nahm Käthe Reichel, eine Freundin der Mutter, sie mit zu Proben ins Deutsche Theater. Mit 14 verkaufte sie Tickets im Berliner Ensemble. In der Schule gehörte sie zu den Besten. Aber sie habe es nicht immer leicht gehabt, sagt ihre Mutter. Wegen ihres Großvaters Robert Havemann, dem DDR-Regimekritiker. Ihre Lehrerin erzählte vor der gesamten Klasse, Uljana komme aus der Familie eines Nazis. Uljana kam weinend nach Hause. Ihr Vater beschwerte sich beim Direktor, die Tochter wechselte die Klasse, ab der vierten ging sie auf die Russischschule, aber sie blieb eine Außenseiterin.
„Uljana war nie ein normales ostdeutsches Kind“, sagt ihre Mutter. Erst kürzlich habe sie ihr erzählt, wie schlimm es manchmal in der Schule für sie gewesen sei. „Aber sie wusste, sobald sie am Strausberger Platz 19 ist, ist die Welt wieder in Ordnung.“
Uljana Havemann: Angela Merkel war ihre BabysitterinStrausberger Platz 19, das war einer der Türme in der Karl-Marx-Allee, entworfen von Uljanas Großonkel, dem Architekten Hermann Henselmann. Die ganze Familie wohnte in diesem Turm, die Henselmanns und die Havemanns, beste Adresse, große Wohnungen, Blick über die Stadt. Künstler und Politiker gingen ein und aus. Wenn es Probleme gab, wurde im ZK angerufen, manchmal direkt bei Erich Honecker. Robert Havemann hatte in der NS-Zeit im Zuchthaus Brandenburg gesessen, in der Nachbarzelle von Honecker. Die Stasi verfolgte Havemann, Honecker beschützte ihn. Auf einer Etage wurde später eine Abhörzentrale der Staatssicherheit gefunden. Manchmal kam eine junge Kollegin des Vaters aus der Akademie der Wissenschaften, um auf Uljana und ihre Schwester aufzupassen. Sie hieß Angela Merkel.

Uljana waren ihre Familie und ihre Herkunft wichtig, aber sie zeigte es nicht. Als ich sie einmal nach ihrem berühmtem Großvater fragte, erzählte sie mir, ihr Vater Utz Havemann sei kein leiblicher Sohn von Robert Havemann, sondern von seiner Mutter Karin von Trotha in die Ehe gebracht worden. Sie hatte nicht viele Erinnerungen an ihren Großvater. Sie war neun, als er starb. Als Uljanas Mann, der Filmproduzent Thomas Kufus, Uljana einmal vorschlug, eine Dokumentation über Robert Havemann zu drehen, lehnte sie brüsk ab. Da gebe es viel zu viele Verwerfungen und Fettnäpfchen.
Uljanas Mutter sagt, sie hätten Havemann regelmäßig in seinem Haus in Grünheide besucht, auch während seines Hausarrests, als er Tag und Nacht von der Stasi bewacht wurde. Uljana und ihre Schwester durften ohne Ausweiskontrolle das Haus betreten.„Sie rannten vor und kündigten uns an.“ Thomas Kufus sagt, sie seien einmal zusammen im Haus in Grünheide gewesen, der neue Besitzer habe sie hineingelassen. „Uljana wusste alles noch ganz genau.“
Ein Jahr vor dem Mauerfall, 1988, als ihr Onkel Florian Havemann, heiratete, durfte sie zum ersten Mal mit ihrer Familie nach West-Berlin fahren. Ihr Vater hatte Briefe ans ZK geschrieben, sich beschwert, dass ihnen die Genehmigung verweigert worden war. Es sei eine Schande für den sozialistischen Staat, dass die französische Familie von Florians Frau dabei sein dürfe, aber nicht seine Ost-Berliner Verwandtschaft. Selbst im Westen zu bleiben, auf die Idee wären sie nie gekommen, sagt Uljanas Mutter. Die Maxime der Familie war: Wir sind die Letzten, die das sinkende Schiff verlassen.
Als das Schiff unterging, war Uljana 16 und noch in der Schule. Die Akademie der Wissenschaften, wo ihr Vater arbeitete, wurde aufgelöst, ihre Schwester zog mit einem West-Journalisten nach New York. Uljana verliebte sich in Robert Gold, einen Ost-Berliner, drei Jahre älter als sie. Ihre Jugendliebe, sagt ihre Mutter. Robert Gold beschreibt Uljana als furchtlose Frau mit einer irrsinnigen Energie, „sehr undeutsch“.
Sie studierte Medien- und Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität, richtete große Essen für Freunde aus, besuchte ihre Schwester in New York, organisierte Theaterproduktionen in Prenzlauer Berg und einer stillgelegten Halle vom Kabelwerk Oberspree, arbeitete in der Öffentlichkeitsabteilung der Schaubühne, drehte zwei Kurzfilme mit dem Schauspieler Uwe Kockisch, einen in Berlin, einen in New York.
Es ging um einen Wissenschaftler, der nach der Wende entlassen wurde und auf der Suche nach seiner großen Liebe war. „Kaputte DDR-Schicksale interessierten Uljana“, sagt ihre Mutter. Sie wollte Regisseurin werden. Aber als sie sich an der Filmhochschule Babelsberg für ein Regiestudium bewarb, sagte der Leiter zu ihr: Sie brauchen nicht mehr studieren, sie können doch schon alles.
Uljana Havemann: „Kaputte DDR-Schicksale interessierten sie“Uljana flog nach Los Angeles, ging dort auf die Filmschule, arbeitete als Casterin, wurde zweimal für Preise nominiert, aber größere Aufträge blieben lange aus. „Uljana gehörte nicht zu dieser Filmschulblase“, sagt Robert Gold. „Sie war eine Quereinsteigerin“, sagt Thomas Kufus. Die hätten es schwer im Filmgeschäft, Frauen ganz besonders. Die Frauenquote sei für Uljana fast zu spät gekommen. „Es werden heute eher Regisseurinnen um die 30 gesucht, nicht um die 50.“
Uljana und Thomas lernten sich 2012 kennen. Er drehte gerade in Israel einen Dokumentarfilm: „24 Stunden Jerusalem“. Sie erzählte ihm, dass ihr Großvater Robert Havemann in Yad Vashem für die Rettung von Juden im Nationalsozialismus geehrt worden war und ihr Cousin in Israel lebte. Er fragte, ob sie nicht mitkommen wolle.
Die Literaturagentin Karin Graf, mit der Uljana befreundet war, beschreibt Thomas und Uljana als „ein ganz tolles Paar“. Die Attraktivität sei die Harmonie zwischen den beiden gewesen. „Sie lasen einander von den Augen ab, was sie wollten.“ Thomas teilte ihre Liebe für Russland, Uljana seine Leidenschaft für seine Filmproduktionen, die Themen, mit denen er sich beschäftigte. Krieg, Holocaust, Kolonialismus, Israel, Palästina, DDR, AfD, Ukraine, Russland. Als Putin die Ukraine überfiel, nahmen sie eine Ukrainerin auf.
Sie lebte jetzt in einer Wohnung einer Villa mit Garten in Westend. Die Wochenenden verbrachte sie in der Nähe von Wittenberge an der Elbe. Uljana liebte die Natur und ihren Garten. Sie sei selbst wie ein Blume darin gewesen, sagt Karin Graf. Ihre Mutter spricht von den Lücken im freiberuflichen Alltag ihrer Tochter, die sie zu füllen versuchte. Uljana bekam inzwischen Aufträge für Fernsehproduktionen: „SOKO München“, „Ein Fall für zwei“, „Ein Sommer auf Langeoog“, ab 2017 lehrte sie am Schauspielinstitut der Kunstuniversität Graz. Aber sie hätte gerne mehr und weniger konventionelle Stoffe verfilmt. An meinem Buch über den Fall Scholl interessierte sie am meisten, wie eine Frau unter den Affären ihres Mannes litt, aber den Schein einer perfekten Ehe bewahrte, bis zu ihrem Tod.
Wir sahen den „Fall Marianne Voss“ kurz vor der Fernsehpremiere in ihrem Wohnzimmer in Westend. Der Film war ein Erfolg, wurde im ZDF und auf Arte gezeigt, die Einschaltquoten waren hoch, die Kritiken gut. Uljana schickte mir jede einzelne, informierte mich über alle Reaktionen, die sie bekam, stärkte mir den Rücken, als der Sender aus juristischen Gründen meinen Buchtitel und meinen Namen nicht nennen wollte.

Sie war so stolz, so glücklich, hoffte, dass ihr nun der Durchbruch gelingen würde, wollte den Schwung mitnehmen, schnell ein neues Projekt anfangen, traf sich mit Drehbuchautoren und Produzenten. Als ich eine Weile nichts von ihr hörte, war ich sicher, sie stecke mitten in einem neuen Film. Als ich sie Ende November fragte, wie es ihr gehe, schrieb sie mir, ihr Film habe in Istanbul einen Preis gewonnen, auf der Reise sei sie krank geworden. Ob wir uns diesmal nicht in einem Restaurant, sondern bei mir zu Hause treffen könnten. Sie sei noch ein wenig schwach.
Wir tranken Kamillentee, sie war dünn, aß wenig und fror. Heute weiß ich, dass sie damals schon ihre Diagnose kannte: ein aggressiver, schnell wachsender Tumor. Sie hat es niemandem außer ihrem Mann gesagt, lange nicht einmal ihrer Mutter und ihrer Schwester . Uljana habe ihre Diagnose nicht angenommen, wollte nicht krank sein, „war richtig empört“, sagt Thomas. Das Trauma aus ihrer Kindheit, als sie schon einmal Krebs hatte, holte sie ein, glaubt er. Ihre Mutter sagt, die Brutalität des Filmgeschäftes sei schuld daran, dass sie nicht darüber sprach. „Sie hatte Angst, dass sie keine Angebote mehr bekommt, wenn bekannt wird, dass sie krank ist.“
Nach der Chemotherapie flog sie nach Sri Lanka zu einer Ayurveda-Kur. Als sie zurückkam, ging es ihr besser. Sie ging zur Berlinale, nahm im Mai an der Verleihung des Deutschen Filmpreises teil, sah blendend aus, bekam Komplimente von allen Seiten. „Sie wollte gesund sein, sie wollte arbeiten“, sagt Thomas. Die Universität Graz gab ihr einen neuen Lehrauftrag für das kommende Wintersemester, mit Senator-Film war sie im Gespräch für einen neuen Film. Im September sollten die Dreharbeiten beginnen. Als der Produzent sie zur Besprechung einlud, musste sie absagen, ihre Schmerzen waren zu stark.
Es ging alles so schnell, sagt Thomas. Mitte Juni war sie noch mit einer Freundin in Ibiza, Ende Juni kam der Befund: Metastasen überall. Der Arzt im Virchow-Klinikum sagte: „Sie haben drei Möglichkeiten: ins Hospiz zu gehen, nach Hause zu gehen oder hier zu bleiben.“ Sie hätten beide geschrien, sagt Thomas. Dann habe Uljana gesagt: „Wir heiraten jetzt.“
Vier Wochen vor ihrem Tod: „Wir haben geheiratet, Mama“.Es war der 4. Juli. Uljana hatte alles vom Krankenbett aus organisiert, mit der Juwelierin gechattet, den Blumenkranz für ihr Haar ausgesucht. Thomas hatte ein Standesamt ausfindig gemacht, das Nothochzeiten durchführte. Die Oberschwester war eingeweiht. Aus versicherungsrechtlichen Gründen hätte Uljana die Klinik nicht verlassen dürfen. Er holte sie mit dem Rollstuhl ab, das Taxi wartete vor der Tür. Zwei Stunden später war sie zurück, den Kranz im Haar. Auf den Fotos aus dem Standesamt sieht sie schmal aus und blass und wunderschön. „Wir haben geheiratet, Mama“, sagte sie zu ihrer Mutter, als sie mittags zu Besuch kam. Dann kam die Pflegerin, nahm ihr den Kranz ab und schraubte ein Metallgestell für das Gehirn-CT an den Kopf. Eine Geschichte, so brutal und berührend, wie sie kein Film erzählen kann. Uljana hat sie geschrieben.
Sie starb am Morgen des 3. August im Krankenhaus Havelhöhe, sie wurde 51 Jahre alt. Ihr Mann Thomas war bei ihr. Kurz zuvor haben sich ihre Schwester und ihre Mutter von ihr verabschiedet. Die Beerdigung findet am 29. August auf einem Berliner Friedhof statt. Eine Erdbestattung, wie sie es sich gewünscht hat. Uljana, sagt Thomas, hatte Angst vor Feuer.
Nach der Nachricht von ihrem Tod hat das ZDF Uljana Havemanns letzten Film „Der Fall Marianne Voss“ noch einmal in die Mediathek gestellt.
Berliner-zeitung